30 Jahre Deutsche Einheit – Neue Einsichten, neue Spaltungslinien
Es ist ein gutes Zeichen, dass sich der Blick auf die Deutsche Einheit langsam verändert. Zu lange hat die Bundesregierung ignoriert, wie differenziert viele Ostdeutsche auf ihr Leben im vereinten Deutschland schauen. Die Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit hat immer eine ganz persönliche Bedeutung, einen ganz persönlichen Bezug. Die Menschen im Osten wollen die DDR nicht zurück, das kann man für die übergroße Mehrheit behaupten. Was sie allerdings tun, je nach Alter auch unterschiedlich tun, das ist ihr Leben zu vergleichen. Welche Werte waren vor 1989 wichtig, welche danach; welche Arbeit habe ich, wo werden unsere Kinder Arbeit finden; welche Stellung hatte und welche habe ich in der Gesellschaft?
Wenn man aufmerksam zuhört, dann lernt man, dass man Wohlstand nicht eins zu eins mit Konsum setzen sollte. Man spürt, wie unterschiedlich die Empfindungen und Erlebnisse vor 30 Jahren waren. Wir feiern bekanntlich ein Doppeljahr des Gedenkens: Jeder Ostdeutsche erinnert sich an den Herbst 1989, an die ungeheure Spannung, die Kraft, den Mut und die Verzweiflung jener Tage. Die Erleichterung, die Freude über die Grenzöffnung, darüber, dass die Revolution friedlich geblieben ist, das wird uns noch für viele Jahrzehnte inspirieren und dankbar machen.
1989 war ein Jahr der Freiheit, auch persönlicher Freiheit. Ein Jahr, indem es auf Jeden und Jede ankam, in dem man etwas bewirkt hat und den anderen schützen konnte, einfach dadurch, weil man zusammen auf der Straße war. 1990 verblasst dagegen – der 3. Oktober wird an die emotionalen Erinnerungen des 9. November nie heran reichen. 1990 sind von der Bonner Politik die Weichen gestellt worden, die den Osten auf das Gleis gesetzt haben, auf dem er immer noch ist. Dazu gehörte die Einsetzung der Treuhand und die Privatisierung der gesamten DDR-Volkswirtschaft. Ostdeutsche waren bald nicht mehr Akteur, sondern Objekt. Es blieb nun wirkungslos, dass 70 000 Menschen wieder montags, wieder in Leipzig, auf der Straße waren. Es blieb wirkungslos, dass man das Streik- und Versammlungsrecht hatte, einfach deshalb, weil man die Betriebe verlor. Und es blieb viel zu lange folgenlos, zumindest für die Täter und Täterinnen, dass sich Nationalismus und Rassismus Bahn brachen, dass Hunderte Menschen getötet, verletzt und traumatisiert worden.
Wir sind in einer Zeit neuer Deutungskämpfe. Die Coronakrise hat Vorhänge aufgezogen, hinter die viele nicht schauen wollen. Die freie Wirtschaft, die so viel der Strahlkraft dieser westlichen Demokratie ausmacht, sortiert die Menschen und Märkte. Nicht nur die Ostdeutschen sind Bürger 2. Klasse, und eben nicht nur nach Selbstauskunft und Gefühl, sondern strukturell betrachtet nach Entscheidungsmacht, Einkommen und Status. Wir haben aber ebenso zu wenige Professorinnen und Juristen mit migrantischem Hintergrund. Wir weisen Rumänen und Bulgaren Arbeits- und Lebensbedingungen zu, die wir selbst nicht akzeptieren würden.
Die Deutsche Einheit ist keine einfach zu erzählende Geschichte vom Dunkel ins Licht; so hat die Bundesregierung lange über die Köpfe der Menschen hinweg geredet. Die immer noch unvollendete Einheit zeigt, die Herausforderung besteht auch heute, Würde, Einkommen, Sicherheit und Gleichberechtigung für alle zu garantieren. Ja, auch diese Gesellschaft hat erheblichen Veränderungsbedarf. Deshalb ist der kritische Blick auf die Deutsche Einheit notwendig, denn er ist der Blick auf die Stärken und Schwächen dieses Landes. Für Selbstzufriedenheit ist weniger Platz, als mancher in der Bundesregierung meint.